„Oh, du fröhliche, oh du selige … Reisezeit!“

Von: Sabine Roßmann - Kaum eine Grundfreiheit haben wir über die Jahre so zu leben und lieben gelernt wie die Reisefreiheit. Selbst diejenigen, die der Idee einer Europäischen Union sonst eher wenig abgewinnen können, können sich den Vorzügen und Annehmlichkeiten der sogenannten Personenverkehrsfreiheit in Europa nicht verwehren.

Grundrechtlich durch Artikel 2 des 4. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und auf europarechtlicher Ebene zusätzlich über Artikel 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und Artikel 45 der Grundrechtecharta abgesichert, ist Europa in den letzten Jahrzehnten spürbar zusammengewachsen. Nicht mehr gehindert durch nationale Grenzen und im Vertrauen auf diese zugesicherte Freiheit haben wir grenzüberschreitend Familien gegründet, Freunde gefunden, Unternehmen aufgebaut, Projekte entwickelt, Arbeit angenommen, Immobilien erworben. Doch schon anlässlich des ersten Lockdowns im Frühjahr mussten wir überrascht feststellen, wie einfach uns diese Grundfreiheit ohne Vorankündigung von einem Tag auf den anderen wieder genommen werden kann. Und waren die „Grenzschließungen“ von Mitte März bis Anfang Juni schon kaum zu ertragen, empfinden die betroffenen Menschen die neuen, verschärften Reisebeschränkungen aufgrund der am 19. Dezember 2020 in Kraft tretenden, zumindest über Weihnachten geltenden COVID-19-Einreiseverordnung als Zumutung.

Typisch österreichische Antwort

Doch kann die Regierung das so einfach? Kann sich der österreichische Gesetzgeber so einfach über europarechtliche Grundsätze hinwegsetzen? Die Antwort ist eine typisch österreichische: Das kommt drauf an! Rechtlich stützen sich die aktuellen Reisebeschränkungen auf Artikel 25 und 28 Schengener Grenzkodex. Führt man sich die zitierten Bestimmungen allerdings zu Gemüte, stellt man ernüchtert fest, dass dort weder etwas von Grenzschließungen noch von Reisebeschränkungen für Unionsbürger steht. Tatsächlich ermächtigt dieses Gesetz im Sinne einer „ultima ratio“ nur zur vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten der Binnengrenzen, sofern eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedsstaat vorliegt. Geschaffen ursprünglich im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zum Hintanhalten illegaler Migration, bietet dieses Gesetz keinerlei Grundlage für Einreiseverweigerungen gegenüber EU-Bürgern.

Selbst wenn man so weit gehen möchte, mittels extensiver Auslegung eine Einschränkungsermächtigung hineinzuinterpretieren, autorisiert die Bestimmung ganz gewiss nicht zu Ungleichbehandlung oder Willkür. Entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dürfen für das EU-Ausland keine strengeren Regeln gelten als für das Inland. Und so mutet es doch sehr merkwürdig an, dass Österreich aktuell für die Einreise aus EU-Mitgliedsstaaten eine 7-Tage-Inzidenz von unter 100 verlangt, während die eigene Bezug habende Zahl bei 217,3 (Stand 17.12.) liegt. Warum also ein Weihnachtsbesuch in Salzburg erlaubt ist, wo die 7-Tage-Inzidenz zuletzt bei 299 (Stand 15.12.) lag, nicht aber in Deutschland mit 201,9 oder Italien mit 195,9 (beides Stand 17.12) ist schlichtweg sachlich nicht nachvollziehbar.

Nicht zuletzt sei auf die besonders befremdlichen Quarantänebestimmungen der genannten Verordnung für die Rückkehr nach Österreich über Weihnachten verwiesen. Während es nämlich seit Beginn der pandemiebedingten Reisebeschränkungen in den vergangenen zehn Monaten immer möglich war, sich „frei zu testen“, was im Sinne einer bestehenden Gesundheitsgefährdung noch am ehesten mit der Ermächtigung zu „Grenzkontrollen“ in Einklang zu bringen ist, steht erstmalig über die Weihnachtsfeiertage jeder Einreisende für zehn Tage unter Generalverdacht und darf sich erst am fünften Tag mittels Test frei beweisen. In Anbetracht des Datums des Inkrafttretens (19.12.) fällt es schwer, die Bestimmung als etwas Anderes zu interpretieren, als die Androhung einer zumindest fünftägigen Beugehaft für Unbelehrbare. Geradezu paradox erscheint in dem Zusammenhang, dass gleichzeitig Antigen-Massentests als Allheilmittel zur Beendigung des harten Lockdowns propagiert werden, während sie für die Einreise nach Österreich offenbar als untauglich erachtet werden.

Macht des Faktischen regiert

Und wie kann man sich als Betroffener nun zur Wehr setzen? Rechtzeitig vor Weihnachten gar nicht!


Wie seitens der Politik völlig richtig erkannt, wird sich - in Ermangelung eines Eilverfahrens - auch diese Verordnung erst einer verfassungsrechtlichen oder gar europarechtlichen Überprüfung unterziehen müssen, wenn sie längst nicht mehr in Kraft und Weihnachten jedenfalls vorbei ist. Für den Moment obsiegt die Macht des Faktischen!

Bei aller pandemischen Getriebenheit sollte sich die Politik allerdings klarmachen,

- dass ein allzu leichtfertiger Umgang mit dem wertvollen Gut der Grund- und Freiheitsrechte das Vertrauen der Bevölkerung in grundrechtliche Garantien massiv erschüttert und Ängste schürt;

- dass der Rückfall in eine Art von Kleinstaaterei das ohnehin noch sehr zarte Pflänzchen eines europäischen Wir-Gefühls ernsthaft bedroht;

- dass jeder Grundrechtseingriff einer faktenbasierten, sachlichen Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie einer seriösen Kommunikation bedarf, wenn die Bevölkerung einen solchen akzeptieren, respektieren und mittragen soll.